Rezension: "Der Mensch lebt nicht vom Brot allein"
"Der Mensch lebt nicht vom Brot allein" / Forum Heil- und Sonderpädagogik
Ein Tagungsband mit Beiträgen zur Theorie und Praxis der Religionspädagogik in heilpädagogischen Arbeitsfeldern.
Vollständige bibliografische Daten:
Der Mensch lebt nicht vom Brot allein / Forum für Heil- und Religionspädagogik. Comenius-Institut Münster. Stephan Leimgruber, Annebelle Pithan, Martin Spieckermann (Hg.); Münster : Comenius-Institut, 2001. - ISBN 3-924804-61-3
Hintergrund
Das Forum Heil- und Religionspädagogik, in der Trägerschaft des Comenius-Institutes und des Deutschen Katecheten-Vereins, initiiert in zweijährlichem Rhythmus Tagungsveranstaltungen im Schnittpunkt von Religionspädagogik und Heilpädagogik. Hervorgegangen ist das Forum im Jahr 2000 aus dem "Würzburger Religionspädagogischen Symposium", dessen Tagungsbände zu unterschiedlichen Schwerpunktthemen einen wichtigen Beitrag zur Fortentwicklung der Religionspädagogik in sonderpädagogischen Arbeitsfeldern geleistet haben. Mehr über das Forum und seine Geschichte erfahren Sie [hier].
Der im Folgenden rezensierte Sammelband enthält verschiedene Beiträge der Forumveranstaltung im Mai 2000 in Bad Honnef. Diese Tagung stand unter dem Motto: "Der Mensch lebt nicht vom Brot allein". Rund 20 Referentinnen und Referenten mit unterschiedlichen professionellen Hintergründen näherten sich der Fragestellung in Grundsatzartikeln, Referaten und Workshopbeiträgen.
Inhalt
"Der Mensch lebt nicht vom Brot allein" – Unter dieser Themenstellung werden in diesem Aufsatzband die kreativen Spielräume der Religionspädagogik in Sonderschule, Einrichtung und Gemeindearbeit ausgelotet. Damit ist eigentlich auch das Verbindende der unterschiedlichen Beiträge genannt.
Im Einzelnen werden dagegen ganz unterschiedliche Fragestellungen angeschnitten, wobei die ersten vier Aufsätze mehr auf eine theoretische Durchdringung des Themas zielen, die folgenden Texte dann praktische Themen zum Ausgangspunkt haben und konkrete Anregungen vermitteln wollen.
Zur ersten Gruppe gehört der Essay der amerikanischen Religionssoziologin Nancy Eiesland (Emory Universität, Atlanta), der betitelt ist mit "Dem behinderten Gott begegnen". Eiesland skizziert einen theologischen Entwurf, der auf der Beobachtung basiert, der auferstandene Christus habe sich seinen Jüngern als körperlich Versehrter zu erkennen gegeben. Dementsprechend sieht die Autorin in der Wahrnehmung von Behinderung und Krankheit als fundamentaler theologischer wie existentieller Kategorie einen Weg zu neuem Gottesverständnis und zur Weiterentwicklung christlicher Wertvorstellungen.
Unter dem Titel "Verheißungen der Biotechnologie" setzt sich Linus Geisler als Mediziner und Medizin-Ethiker mit dem Menschenbild der Genforschung und Präimplantationsdiagnostik auseinander. Interessanterweise entwirft Geisler kein Menschenbild, das er den Bestrebungen der Biotechnologie entgegenzusetzen versucht; vielmehr weist er nach, dass diese Wissenschaft selbst kein tragfähiges Bild des "neuen Menschen" besitzt. Für den Autor geht es darum in der Zukunft um die transparente und interdisziplinäre, gesellschaftliche wie wissenschaftliche Kommunikation über die ethischen Problemstellungen Biotechnologie.
Andreas Möckel, der sich bereits durch einige Beiträge zur Geschichte der Heilpädagogik hervorgetan hat, bietet mit "Heilpädagogik – eine säkulare Heilsgeschichte?" einen gehaltvollen Aufsatz. Dieser ist trotz seiner historischen Blickrichtung ganz modern: Möckel entwickelt die These, dass Heilpädagogik ein integraler Bestandteil der säkularen europäischen (Bildungs-)geschichte ist und hier bis in die Integrationspädagogik stetig weiter wirkt. Indem er heilpädagogisches Denken in der Säkulariationsbewegung der vergangenen drei Jahrhunderte verankert, widerspricht Möckel kurzsichtigen utilitaristischen Tendenzen.
Johannes Degen Leiter der Evangelischen Stiftung "Hephata" macht in seinem knappen Aufsatz "Die Zeit der Anstalten ist vorbei" mit dem aramäischen "Öffne dich!" aus Markus 7 ernst. Er beschreibt die Zukunftsperspektive seiner knapp 150jährigen Institution in Richtung Integration, Selbstbestimmung und professionellen Perspektivwechsel.
Die Redaktionsmitglieder der Zeitschrift Ohrenkuss (http://www.ohrenkuss.de) geben unter dem Titel: "Trisomie 21 und die Vorstellung vom Leiden"einen Einblick in ihre Schreibwerkstatt. Dort stellen sie ihre Erfahrungen mit ihrem Leben mit Down-Syndrom in kreativen Texten dar.
"Mit den Augen der Kunst sehen lernen", dafür plädiert die Kunstpädagogin Bettina Uhlig in ihrem Workshopbeitrag für den Religionsunterricht an Sonderschulen. Dazu gehören Ent-schleunigung der Wahrnehmung und der Blick für das ästhetische Detail, was Uhlig anhand von Fotos und Texten ihres Workshops anschaulich werden lässt.
Ganz konkret und praxisbezogen fällt der Beitrag von Elke Hirsch, Religions- und Tanzpädagogin aus: "Bewegung und Tanz – Nahrung für Leib und Seele". Anhand vieler Ideen, Choreografien und Melodien zu Themen und Ritualen liefert ihr Beitrag nicht weniger als eine Art Crash-Kurs für die Tanz-Praxis im Religionsunterricht.
Auch Gabriele Küppers bringt in ihrem knapp sechsseitigen Beitrag über die "Jeux Dramatiques" viele praktische und theoretische Informationen unter. Sie stellt den Ansatz der Jeux Dramatiques als Möglichkeit dar, eine Geschichte von innen heraus szenisch zu gestalten und hebt dies vom Theaterspielen ab. Küppers' Darstellung liefert wertvolle Hinweise zum Einsatz dieser Methode im Religionsunterricht.
Zum Thema "Freiarbeit im Religionsunterricht mit lernbehinderten Kindern" fasst Günther Heinz seine praktischen Erfahrungen mit dieser Unterrichtsform zusammen. Auch wenn mich seine gleichzeitige Behandlung der Josefs- und Exodusthematik im Unterricht etwas befremdet, bietet der Autor praktische Anstöße. Dies macht Lust auf mehr: Anstelle der Laufzettel zur Jesus-Stationsarbeit hätte ich mir allerdings Platz für mehr Fotos und Darstellungen der verwendeten Materialien gewünscht.
Gerlinde Ehrenfeuchter skizziert unter der Themenstellung "Gender-Perspektive im Religionsunterricht" auf anschauliche Weise die Entwicklung einer Freiarbeits-Einheit zur Sara und Abraham-Geschichte für die Förderschule. Ich finde hier vor allem die Verbindung von Geschlechterrollenperspektive und religionspädagogischer Konkretion gelungen. Der Aufsatz zeichnet sich neben der Tatsache, dass hier neue Wege gegangen werden, damit durch ein hohes Niveau bei der Reflexion und Verzahnung von Theorie und Praxis aus.
Mehr auf die Gruppe der geistigbehinderten Schülerinnen und Schüler bezogen ist dann der Aufsatz von Georg Hanefeld und Cordula Focke: "Brot – Nahrung des Leibes und der Seele". In 5 Bausteinen entwickeln sie einen Zugang zum Symbol Brot – vom Konkreten bis hin zur übertragenen Bedeutung. Damit liefern Hanefeld und Focke einen praktikablen Rahmen für ein ganzes Projekt, das im Detail allerdings noch ausgestaltungsfähig ist.
In eine ähnliche Richtung geht das fächerübergreifende Projekt "Schöpfung mit allen Sinnen erleben" von Martina Taubert und Birgit Schmäh, welches die Autorinnen mit einer integrativen Klasse durchgeführt haben: Angetrieben von dem Projektziel, einer Ausstellung, erarbeiten sich die Schülerinnen und Schüler verschiedene Elemente der Schöpfungserzählung – handlungsorientiert und auf ganz unterschiedlichen Lernniveaus. Eingebettet in den Text finden sich viele Anregungen für die Durchführung des Projektes in der eigenen Klasse. Theoretische Informationen kommen dabei auch nicht zu kurz.
Ganz im Sinne seines Dissertationsthemas stellt Hans-Jürgen Röhrig in seinem Beitrag "Bilderbücher in einem subjektorientierten Religionsunterricht" die konstruktivistische Eigentätigkeit der Schülerinnen und Schüler in den Mittelpunkt. Wie die nun konkret in Bezug auf das Thema aussieht, bleibt offen; ich halte es zumindest für fraglich, den Schülerinnen und Schülern nur eine Leseecke mit spezifischen Büchern für das 'freie religiöse Lernen' zur Verfügung zu stellen. Da gibt es noch andere Methoden, auch wenn diese nicht ganz so neu sein mögen. Des Weiteren rezensiert Röhrig drei Bilderbücher zur Behinderungsthematik.
Sowohl auf die Praxis an sich ausgerichtet als auch auf die Reflexion pädagogischen Tuns kommt in meinen Augen der Aufsatz von Richard Rogge: "Werterziehung in der Schule zur individuellen Lernförderung/Lebensbewältigung" daher. Ganz im Sinne des Tagungsthemas entwirft Rogge die Grundlagen und vorfindlichen Bedingungen einer Werterziehung und skizziert diese grob anhand zweier Beispiele für den Unterricht. Interessant finde ich dabei, dass der Autor auf Heiligenlegenden und herausragende Gestalten der christlichen Tradition zurückgreift, um Wertvorstellungen anschaulich zu machen.
Claudia Kobold ist mit uns in ihrem Aufsatz "Zu Gast in der Lebensgemeinschaft der Arche". Die Autorin informiert über die Hintergründe dieser Bewegung und beschreibt ihren ersten Besuch in einer Archegemeinschaft. Daran anschließend stellt sie wichtige Aspekte und Prinzipien der Archebewegung heraus.
"Involvierende Bibelauslegung" wird von Hanna Löhmannsröben in ihrem Beitrag vorgestellt. In dieser dem Bibliodrama nachempfundenen Ausdrucksform geht es um Körpererfahrung und szenischen Ausdruck biblischer Geschichten. Die Autorin beschreibt, wie sie mit diesem Konzept mit geistigbehinderten Schülerinnen und Schülern arbeitet und beleuchtet das Thema von unterschiedlichen Perspektiven aus.
Mit "Gottesdiensten für Menschen mit einer intensiven geistigen Behinderung" beschäftigt sich Ralf Weinert in seinem Beitrag auf ganz konkrete und anschauliche Weise. Nicht allein aus dem Grund, dass es hierzu ansonsten wenig Literatur gibt, sondern auch weil, der Autor auch ganz praktische Gottesdienstvorschläge gibt, verdient dieser Beitrag eine besondere Beachtung.
Zielgruppe
Zur Zielgruppe gehören meines Erachtens vor allem praktisch arbeitende Religionspädagog/innen und Seelsorger/innen in sonderpädagogischen Arbeitsfeldern, ob in Schule, Einrichtungen oder Gemeinde. Des Weiteren werden auch Studierende aktuelle Grundlagenartikel zur Gentechnologie, Theologie und Geschichte der Heilpädagogik sowie wertvolle didaktische Informationen im Schnittbereich von Religionspädagogik und Sonderpädagogik finden.
Fazit
Wie in der inhaltlichen Darstellung deutlich geworden sein dürfte, decken die einzelnen Beiträge ein breites Themenspektrum zwischen Theorie und Praxis ab und erreichen dabei auch eine ganz unterschiedliche Tiefe. Der erfreulich hohe Anteil von Beiträgen aus der Praxis gibt vielfältige Anregungen. Weniger als Unterrichtsrezepte, die 1:1 übernommen werden wollen, sondern als Ausgangspunkte und praktische Impulse für die eigene Arbeit.
Insgesamt werden sich alle Interessierten einen anschaulichen und lebendigen Überblick über aktuelle Entwicklungen der Religionspädagogik in sonderpädagogischen Arbeitsfeldern verschaffen können.
Weiterführende Links
Forum Heil- und Religionspädagogik: http://www.fhrp.de
Comenius-Institut: http://www.comenius.de (Bestellung der Publikation hier möglich: - bookshop)
Deutscher Katecheten-Verein, Sonderpädagogik: http://www.katecheten-verein.de/Sonderpadagogik/sonderpadagogik.html
Über den Rezensenten
Dr. Stefan Anderssohn ist Sonderschullehrer und Religionspädagoge. Er hat zur Religiosität von Menschen mit geistiger Behinderung umfangreich geforscht. Stefan Anderssohn arbeitet u.a. als Religionspädagoge mit Kindern und Jugendlichen mit geistiger Behinderung und Körperbehinderung an einem großen Schul- und Therapiezentrum in Norddeutschland. Er ist außerdem seit dem Jahr 2000 Betreiber des Internetportals www.reliforum.de, dem Forum "Religionspädagogik & Geistigbehindertenpädagogik". Mehr über den Autor erfahren Sie unter www.anderssohn.info.
Diese Rezension zitieren?
Anderssohn, Stefan: Rezension vom 12.4.2007 zu: Stephan Leimgruber, Annebelle Pithan, Martin Spieckermann (Hg.) Der Mensch lebt nicht vom Brot allein / Forum für Heil- und Religionspädagogik. Münster : Comenius-Institut, 2001. Erschienen bei reliforum.de. URL: http://www.anderssohn.info/reliforum//index.php?option=com_content&task=view&id=61&Itemid=39 Stand: [*Ihr Abrufdatum*] .