Rezension: "Verletzlichkeit und Gewalt" (Tagungsband FHRP)

Verletzlichkeit und Gewalt- Ambivalenz wahrnehmen und gestalten.

3. Tagungsband des Forum für Heil- und Religionspädagogik mit Beiträgen aus Praxis und  Wissenschaft.

Vollständige bibliografische Daten

Annebelle Pithan, Leimgruber, Stephan, Spieckermann, Martin (Hg.): Verletzlichkeit und Gewalt : Ambivalenz wahrnehmen und gestalten / Forum für Heil- und Religionspädagogik ; Bd. 3. Münster : Comenius-Institut, 2005. - 127 S.; ISBN 3-924804-59-1 kart. : EUR 13.80
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Hintergrund

Das Forum Heil- und Religionspädagogik, das vom Deutschen Katecheten-Verein und dem Comenius-Institut getragen wird, organisiert in zweijährigem Abstand Veranstaltungen mit Vorträgen und Workshops im Schnittpunkt von Heil- und Sonderpädagogik. Die Beiträge der namhaften Referentinnen und Referenten aus Schule, Gemeinde, Einrichtungen und Hochschule werden regelmäßig in den Sammelbänden des Forum veröffentlicht und einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Der nunmehr vorliegende dritte Band dieser Veröffentlichungsreihe dokumentiert eine Forum-Veranstaltung im März 2004, die unter dem Motto stand: „Verletzlichkeit und Gewalt – Ambivalenz wahrnehmen und gestalten“.

Das Thema

Gewalt ist für die Religionspädagogik ein ebenso schillernder Begriff wie vielschichtiges Thema: Aus der Sicht der Religion und der christlichen Ethik geht es um 'Gewaltverzicht' und die Würde der Schwachen. Seitens der Erziehungswissenschaft muss sie sich als Pädagogik fragen lassen, wie viel 'Gewalt' sie in der Erziehung toleriert. In der Praxis sehen sich Religionspädagog/innen immer wieder mit Gewalt und ihren Konsequenzen, mit 'gewaltbereiten' Kindern und Jugendlichen sowie deren Opfern konfrontiert. Und nicht zuletzt tritt für eine Religionspädagogik in sonderpädagogischen Handlungszusammenhängen die Frage nach der 'strukturellen Gewalt' und der Ausgrenzung von Menschen mit Behinderungen in Blickwinkel des Interesses.

Dieser knappe Aufriss lässt bereits die Vielfältigkeit des Themas ahnen.

Die 14 Beiträge des Bandes gehen es auf ganz unterschiedliche Weise und von ganz unterschiedlichen Perspektiven und Fachwissenschaften her an.

Inhalt

Nach einer Meditation zu Psalm 124 von Ulrike Wagner-Rau führt Christiane Thürmer-Rohr in ihrem Beitrag ihre Idee von der dialogischen Existenz, einer menschlichen Grundqualität, aus. Dialog meint hier nicht eine Technik der Kommunikation, sondern eine Form der Kommunikation, bei der das Gegenüber nicht Objekt des Bewusstseins ist, sondern als anderes Bewusstsein wahrgenommen wird. Damit ist der Dialog weder Strategie noch Laissez-faire, sondern das fundamentale Interesse an der Sicht anderen, vor alle Gewalt. Denn diese ist in ihrer Eigenschaft, das Gegenüber als Objekt zu mit dem dialogischen Prinzip nicht vereinbar, sondern gründet in der Wahrung der Pluralität, der Unterschiede und der Menschenwürde.

Ebenso wie Ratschläge mit 'Schlägen' etymologisch verwandt sind, kann auch gut gemeinte Hilfe einen ambivalenten Charakter tragen. Dies ist das Thema des Essays von Martin Leutzsch, der anhand von biblischen Geschichten und Situationen der frühen Gemeinde und Gegenwart nachzeichnet, wie Verletzlichkeit von Helfern und Hilfsbedürftigen zur Neuordnung von sozialen Organisations- und Interaktionsstrukturen führt. Der Autor wirft mit seinen Interpretationen vor allem neue Perspektiven auf bekannte biblische Geschichten – etwa wenn er die Verletzlichkeit der helfenden Freunde Hiobs herausarbeitet. Mit seiner Forderung 'Sozialisationsziel Verletzlichkeit' unterstreicht Leutzsch die Produktivität, die der Wahrnehmung von Verletzlichkeit in der christlichen Tradition innewohnt.

Andreas Möckel setzt sich in seinem Aufsatz mit dem Paradox der gewaltlosen Gewalt der Erziehung auseinander. Dabei diskutiert er dies Frage vor dem Hintergrund der Geschichte des europäischen Rechtswesens und beweist hier wieder einmal einen historischen Weitblick. Es steht für Möckel außer Frage, dass Erziehung auf Gewalt gründet, unterscheidet dies aber von Gewalttätigkeit, die in seinen Augen illegitim ist. Des weiteren setzt sich der Autor mit der pädagogischen und politischen Dimension Gewalttätigkeit von Kindern und Jugendlichen auseinander.

Bernd Beuscher erörtert den zwar verständlichen, aber stets misslingenden Versuch, soziale Systeme und Erziehung völlig gewaltfrei zu gestalten. Dies vernachlässige nach Beuschers Ansicht die anthropologischen Bedingungen. Dem Anspruch, mit Gewalt für Gewaltfreiheit einzutreten, stellt der Autor die Besinnung auf Schwachheit und Hilflosigkeit – sowohl was Hilfsbedürftige als auch die professionell Helfenden anbelangt – entgegen.

Der umfangreiche Beitrag von Meinolf Schultebraucks basiert auf einer Panel-Interviewstudie1, die der Autor mit drei Menschen mit Behinderungen durchgeführt hat. Schultebraucks zeigt, wie Menschen mit Behinderungen strukturelle Gewalt in Behinderteneinrichtungen, Kirche und Gesellschaft erleben und welche Wege sie entwickelt haben, sich zu emanzipieren. Dass die betroffenen Personen selbst breiten Raum bekommen, ihre Lebensgeschichte darzulegen, macht den Beitrag aus meiner Sicht besonders lesenswert.

Zwar ohne sichtliche Verbindung zur Religionspädagogik, dafür aber immens sachkundig und präzise in der Analyse kommt der Aufsatz von Edith Wölfl über „Gender-orientierte Perspektiven zum Umgang mit spektakulärer Gewalt in der Schule“ daher. Die Autorin vermag es ohne pauschale Klischees und Schuldzuweisungen überzeugend darzulegen, dass Gewalt ein auf mehreren Faktoren basierendes Gender-Problem männlicher Jugendlicher ist. Aus Ihrer Analyse leitet sie stringent Handlungsfelder für die Prävention ab. Ein Grundlagenartikel, für alle, die sich mit der gender- und identitätspsychologischen Seite von Gewalt auseinandersetzen möchten.

Das Konzept des liturgisch-basalen Religionsunterrichtes wird in dem Beitrag von Wolfhard Schweiker ausführlich entfaltet. Diese Form des Religionsunterrichtes ist durch den rituellen, gemeinsamen, sinnlichen und festlichen Vollzug gekennzeichnet und richtet sich an Schüler mit mehrfachem und intensivem Förderbedarf. Einbezogen werden Methoden wie Jeux Dramatiques und Elemente der Basalen Stimulation, die der Autor praxisbezogen darstellt. Das Konzept des liturgisch-basalen Religionsunterrichtes, das den herkömmlichen Unterricht mehr der erlebnismäßigen Sphäre des Gottesdienstes öffnet, ist eine interessante Weiterführung des Nipkowschen Elementarisierungsgedankens in den Schwerstbehindertenbereich.

Agnes Stemmer erörtert vor dem Hintergrund des therapeutischen religionspädagogischen Ansatzes von Oskar Randak das Problem aggressiver Kinder im Religionsunterricht. Dabei gelten ihre Aussagen allerdings nicht spezifisch für dieses Unterrichtsfach, sondern erweisen sich als allgemein übertragbar. Neben der Darstellung verschiedener Aggressions-Theorien und der daraus abgeleiteten präventiven Lernziele bietet Stemmer eine Darstellung der Zusammenhänge von aggressiven Verhalten und sozialem Umfeld. Interessant sind die auf Testdiagnostik und Beobachtungsbögen gestützte Ausführungen über das Aggressionsverhalten so genannter 'antisozialer' Kinder. Die Erkenntnisse lässt die Autorin in ein Konfliktlösungsmodell nach dem Randakschen Ansatz einfließen, das eine angemessene Darstellung findet und durch die exemplarische Darstellung eines Beobachtungsbogens abgerundet wird. Insgesamt bildet der Aufsatz Stemmers damit eine Ergänzung zum Beitrag von Edith Wölfl (in diesem Band).

Mit dem Thema Gewalt in muslimischen Familien mit behinderten Kindern und Jugendlichen beschäftigt sich Stephan Leimgruber. Dabei betrachtet er die Thematik zunächst aus kultureller Perspektive und stellt dar, inwieweit Behinderung als theozentrische Gewalt aufgefasst wird und welche Folgen für die Erziehung behinderter Kinder daraus resultieren mögen. Über die Gewaltbereitschaft behinderter Kinder und Jugendlicher aus muslimischen Familien ist nichts Gesichertes bekannt, ebensowenig inwieweit diese Kinder und Jugendlichen selbst Gewaltopfer werden. Anhand der synoptischen Darstellung der Kain-und-Abel-Geschichte im Koran und Altem Testament stellt Leimgruber heraus, dass in beiden Schriften Gewaltanwendung ein leidiges Vorkommnis ist, dass die Beziehungen der Menschen untereinander und zu Gott stört.

In ihrem Beitrag setzt sich Bettina Uhlig mit künstlerisch-ästhetischen Ausdrucksformen als kindgerechten Zugang zu Verletzlichkeit und Gewalt auseinander. Dabei geht sie davon aus, dass diese Ausdrucksformen „kompensatorisch, kathartisch, vor allem jedoch erlebens- und erkenntnisstiftend“ (S. 177) sind. Nach einer Einführung in die Formen der bildlichen Darstellungen von Gewalt durch Kinder präsentiert die Autorin zwei Praxismodelle: das dialogische Zeichnen und das Auslegen eines Bildes. Beim ersten Modell zeichnen zwei Personen gemeinsam, beim letzteren werden Veränderungen an einem bestehenden Bild vorgenommen.

Ebenso im Sinne einer kunstpädagogischen Aufarbeitung der Gewalt-Verletzlichkeit-Thematik steht Andreas Nicht mit Scherbenbildern in bester biblischer Tradition. Orientiert an den Arbeiten von Kurt Schwitters und Niki de Saint Phalle betrachtet der Autor Scherbenbilder unter kultureller, religiöser, biografischer und symbolischer Perspektive. Daran anschließend bietet Nicht ganz konkrete Anregungen für das Erstellen dauerhafter und temporärer Bilder sowie eine Herstellungsanleitung.

In seinem Beitrag „Cool- wie verletzlich wir sind“ stellt Volker Niggemann Begegnungstage von Konfirmand/innen und Menschen mit Behinderungen vor. Dazu gehört der Besuch der Menschen mit Behinderungen an ihrem Arbeitsplatz in der WfB, das Treffen in der Freizeit und im Gottesdienst. Interessant ist die Darstellung des Spiels „Meinungsbarometer“, bei dem es gilt, Stellung zu Fragen im Umgang mit Menschen mit Behinderungen zu beziehen.

Aus ihrer praktischen Arbeit als Seelsorgerin für Menschen mit Seh- und Hörbehinderung berichtet Stephania Sabel. Die Autorin, selbst taubblind, stellt die Bedeutung der Kommunikationsfähigkeit des Seelsorgers bei Menschen mit Behinderungen heraus. Das bedeutet in Bezug auf die oben genannte Gruppe ganz konkret, verschiedene Formen der Unterstützten Kommunikation: Gebärdensprache, das Daktylieren und Lormen zu beherrschen. Darüber hinaus gibt Sabel einen Einblick in die seelsorgerliche Arbeit mit einem Opfer sexueller Gewalt und mit dem Täter.

Zielgruppe

Die Veröffentlichung richtet sich vornehmlich an sonderpädagogisch arbeitenden Religionspädagog/innen in Schule, Einrichtungen und Gemeinde, sowie Lehrkräfte und Studierende an Hochschulen. Ihnen bietet das Buch ein aktuelles Panorama der religionspädagogischen Landschaft innerhalb der Sonderpädagogik. Zugleich dürften einige interdisziplinäre Beiträge auch interessant für Studierende der Sozialwissenschaften und Pädagogik sowie Theologie zu lesen sein.

Fazit

Dieser Band des Forum Heil- und Religionspädagogik bietet zweifellos eine Auseinandersetzung mit dem Thema Gewalt und Verletzlichkeit auf einem sehr hohen theoretischen Niveau. Der Brückenschlag zur praktischen Arbeit hätte hätte bei dem einen oder anderen Beitrag noch akzentuierter ausfallen können. Insgesamt liegt der Reiz der Veröffentlichung aber in der interdisziplinären Herangehensweise, die für das religionspädagogische Handeln in sonderpädagogischen Zusammenhängen ein weites Feld erschließt und einen lebendigen Dialog mit den Nachbarwissenschaften deutlich werden lässt. Damit findet die Religionspädagogik auf dem Gebiet der Heilpädagogik wieder zu ihrer interdisziplinären Arbeitsweise zurück, die in ihr historisch angelegt ist.

Weiterführende Links zum Buch

 

Über den Rezensenten

Dr. Stefan Anderssohn ist Sonderschullehrer und Religionspädagoge. Er hat zur Religiosität von Menschen mit geistiger Behinderung umfangreich geforscht und ist in der Aus- und Fortbildung tätig. Stefan Anderssohn arbeitet u.a. als Religionspädagoge mit Kindern und Jugendlichen mit geistiger Behinderung und Körperbehinderung an einem großen Schul- und Therapiezentrum in Norddeutschland. Er ist außerdem seit dem Jahr 2000  Betreiber des Internetportals www.reliforum.de, dem Forum "Religionspädagogik & Geistigbehindertenpädagogik". Mehr über den Autor erfahren Sie unter www.anderssohn.info

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Anderssohn, Stefan: Rezension vom 6.5.2007 zu: Annebelle Pithan, Leimgruber, Stephan, Spieckermann, Martin (Hg.): Verletzlichkeit und Gewalt : Ambivalenz wahrnehmen und gestalten / Forum für Heil- und Religionspädagogik ; Bd. 3. Münster : Comenius-Institut, 2005. Erschienen bei www.reliforum.de. URL: http://reliforum.anderssohn.info/index.php/reliforum-artikel/104-rezension-verletzlichkeit-und-gewalt-tagungsband-fhrpStand: [zuletzt geprüft am: Ihr Abrufdatum] .