Themen und Strukturen: Ein neuer Ansatz zur Interpretaion der Religiosität von Menschen mit geistier Behinderung

Ein neuer Ansatz für Forschung und Praxis

Für alle, die in der religiösen Erziehung und Begleitung arbeiten, sind religionspsychologische Erkenntnisse hilfreich. Wie entwickeln sich die religiösen Zugangsweisen? Welche einflussreichen Faktoren gibt es? Obgleich Menschen mit (geistiger) Behinderung für die Religionspsychologie leider immer noch eine untergeordnete Rolle spielen, wird hier ein Modell vorgestellt, das eine neuartige Sichtweise auf die Religiosität bietet. Mit dem Ansatz der Strukturen und Themen möchte ich Ihnen die Möglichkeit zeigen, die Religiosität von Menschen mit geistiger Behinderung angemessen und lebensnah zu interpretieren. 

Hintergrund: Der Religionsunterricht und die  und Empirie

Bereits 1968 forderte der Religionspädagoge Klaus Wegenast 1 in seinem vielbeachteten und ebenso oft zitierten Aufsatz die empirische Fundierung der Religionspädagogik. Es genügte seiner Auffassung nicht, nur Vermutungen über die Zielgruppe der unterrichtlichen Bemühungen anzustellen. Vielmehr sollten die religionspädagogischen Konzeptionen auf gesichertem Faktenwissen über die anthropologischen und soziokulturellen Rahmenbedingungen basieren.
Was die religionspädagogische Theoriebildung auf dem Gebiet der Sonderpädagogik betrifft, kann man sagen, dass der Ruf nach Empirie lange ungehört blieb. Zwar gab es auch hier den Versuch, religionspädagogisches Handeln auf lernpsychologische ' Füße' zu stellen, wie etwa bei Rolf Krenzer und Richard Rogge. Doch bleiben die herangezogenen Kriterien religiös unspezifisch. Die wenigen Veröffentlichungen der folgenden Achtziger- und Neunzigerjahre beschränkten sich dann meist darauf, aktuelle religionspädagogische Konzeptionen, bzw. allgemeine Erkenntnisse auf Menschen mit geistiger Behinderung zu übertragen. Nach wie vor blieb die empirische Forschung ein Desiderat.          

Frühe religionspsychologische Forschungsarbeiten

Dabei ist es falsch anzunehmen, dass empirische Forschung für die Religionspädagogik erst nach 1968 – dem Erscheinen des genannten Aufsatzes also - ein Anliegen gewesen ist. Dies stimmt ebensowenig für die Religionspädagogik insgesamt wie ihr sonderpädagogisches Teilgebiet.  

Das Gegenteil ist der Fall. Uns liegen zumindest zwei umfänglichere Versuche von Hans Sommerer und Ruth Wintergerst aus den Jahren 1932 und 1945 vor, die die Religiosität von Menschen mit geistiger Behinderung mittels religionspsychologischer Methodik zu erforschen. Ich möchte an dieser Stelle nicht weiter auf diese höchst interessanten Arbeiten eingehen. Nur soviel ist zu erwähnen, dass sie seinerzeit aktuelle religionspsychologische Theorie für pädagogisches Handeln fruchtbar gemacht haben. 

Von kognitiven Theorien zur „religiösen Entwicklung“ ...

Auch nach 1945 hätte sich die Religionspädagogik mit Menschen mit geistiger Behinderung damit vor die Aufgabe gestellt sehen müssen, den Dialog mit der Religionspsychologie zu suchen. Dies geschah nicht, sondern dieser Austausch fand auf Ebene der allgemeinen Religionspädagogik statt.  Wenngleich Wegenasts Ruf nach Empirie einige Popularität erzielte, begann man hier eher zögerlich mit der Rezeption religionspsychologischer Forschungsergebnisse. 

 Vor allem Karl Ernst Nipkow, Friedrich Schweitzer, Fritz Oser und Anton Alois Bucher gebührt das Verdienst, in den Dialog mit der Religionspsychologie getreten zu sein und ihn für die Religionspädagogik nutzbar gemacht zu haben.  

Welches sind die religionspsychologischen Ansätze, auf die sie sich bezogen?
Ich möchte behaupten, dass auf dem Gebiet der religiösen Entwicklungsforschung die kognitiv-strukturellen Theorien dominieren. Damit sind diejenigen Theoriemodelle gemeint, welche auf der kognitiven Entwicklungspsychologie Jean Piagets basieren. Diese ist gekennzeichnet durch die Auffassung, die geistige Entwicklung schreite in Stufen voran und sei in Strukturen des Denkens organisiert.
Obwohl Piaget selbst nicht an der Erforschung religiöser Entwicklung interessiert war, erwies sich seine Theorie als ungemein fruchtbar für die religöse Entwicklungspsychologie. Und zwar auf verschiedene Weisen:

  • In der direkten Übertragung Piagetscher Entwicklungsstufen und Denkschemata (z.B. Goldman und Elkind, Bucher) in den religionspädagogischen Bereich, etwa auf das Verständnis von Gleichnissen, alttestamentlichen Geschichten.
  • Über den Umweg der Kohlbergschen Moralentwicklungsforschung im religösen Urteil von Oser und Gmünder als spezifisch religöses Konstrukt. Hier zeigen die Probanden mit Ihren Entscheidungen in hypothetischen „Dilemma“-Situationen, wie sie das Verhältnis von Gott (bzw. eine höheren Macht) und Menschen bestimmen. Dieses entwickelt sich in charakteristischen Stufen.  
  • Im umfassenden faith-development-Modell Fowlers, der verschiedene Aspekte (z.B. Eriksons Lebenszyklus-Phasen oder Selmans Soziale Perspektivübernahme) unter insgeheimer Führung der Piagetschen Theorie kognitiver Entwicklung vereinte.


Erstens beziehen diese Theorien Wesentliches aus den Forschungsergebnissen zur kognitiven (strukturgenetischen) Entwicklung im Kindes- und Jugendalter. Damit laufen die Ansätze mehr oder weniger Gefahr, Lebensalter und kognitives Funktionsniveau zu verschränken. Ein weiteres, nicht so offensichtliches Bindeglied dieser Theorien ist wohl ihre Fortschrittsorientierung. Damit meine ich, dass eine an der normalen Entwicklung orientierte, idealtypische Stufenfolge entworfen wird. Frühe Stufen werden durch höhere, ausgeklügeltere ersetzt. Mehr oder weniger deutlich wird damit eine Vorwärtsentwicklung fokussiert. Dabei stellten bereits Lawrence Kohlberg und Carol Gilligan2 1971 fest, dass diese idealtypische Entwicklung für das moralische Urteilen bei Erwachsenen nicht gegeben war. Mit anderen Worten: Es ließen sich bei dieser Personengruppe Denkstrukturen finden, die normalerweise bei Kindern vorkamen.

Was bedeutet dies für Menschen mit geistiger Behinderung?   
Hier verschärft sich dieses Problem nun: Nicht allein, dass Menschen mit geistiger Behinderung aufgrund der kognitiven Kompetenzen nicht in der Lage sind, die idealtypischen Entwicklungsfolgen zu durchlaufen: Nein, auf ihre Religiosität wird eine Form Interpretation angewandt, die an jüngeren Kindern gewonnen wurde. Dies bedeutet im Extremfall eine Gleichsetzung von Erwachsenen und Kindern - ein Fehlschluss, vor dem bereits Hans Sommerer im Jahr 1932 warnte.        

... zu den „Strukturen und Themen“

Wir haben festgestellt, dass Menschen mit geistiger Behinderung die Nagelprobe für religionspsychologische Theorien darstellen.

Ich möchte Ihnen ein von mir entwickeltes Modell vorstellen3 , welches meiner Meinung nach ein angemessene Interpretation von Religiosität auch bei Menschen mit geistiger Behinderung zulässt. Dazu gehört zunächst, die unselige Verbindung von kognitivem Funktionsniveau und Lebensalter aufzulösen. Mein Modell geht somit den gegenläufigen Weg zu religionspsychologischen Ganzheits- und Großraumtheorien. Stattdessen arbeiten wir mit zwei Bezugsgrößen, ähnlich den Längen-  und Breitengraden auf einer Landkarte.
Diese beiden Bezugsgrößen heißen Strukturen und Themen und stehen zunächst relativ unabhängig zueinander. Das kann man sich ungefähr so vorstellen (s. Grafik):

Was sind Strukturen?
Die Perspektive der Strukturen bezieht sich auf die kognitive Dimension von Religiosität. Auch ich beziehe mich auf die strukturgenetische Theorie von Jean Piaget, die von ihrem philosophischen Ansatz her interessant ist und auch gewinnbringend für die Religionspädagogik angewendet werden kann.  Zunächst bezieht sich der Begriff 'Struktur' auf eine charakteristische Art, denkend mit religiösen Inhalten umzugehen. Wichtig ist meiner Ansicht nach die Annahme, dass Religiosität eine aktive Konstruktionsleistung ist. Zweitens können wir einige Regeln identifizieren, nach denen sie konstruiert wird. Diese Regeln nenne ich Strukturen.

Bei der Erforschung des Gottesbildes und des Gebetsverständnisses von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit geistiger Behinderung konnte ich vier Strukturebene identifizieren. Ich betone dabei, dass jede Ebene für sich genommen ein funktionsfähiges  Gebilde darstellt und keine Weiterentwicklung auf ein nächsthöheres Niveau erfordert.

  • undifferenzierte Strukturebene
  • intuitive Strukturebene
  • konkrete Strukturebene
  • abstrakte Strukturebene      

Zum Beispiel zeichnet sich die intuitive Strukturebene dadurch aus, dass sie aus vielen ausdrucksstarken Bildern besteht, die in assoziativer, quasi sprunghafter Weise verknüpft werden. Gott besitzt eine menschenähnliche Gestalt und kann zwischen Himmel und Erde hin und herwechseln. Im Vordergrund der intuitiven Strukturebene steht die Plastizität und Eindrücklichkeit der Bilder, die ein buntes Mosaik der Religiosität zeigt.
Ähnlich zeigen auch die anderen Strukturebenen charakteristische Merkmale, die ich hier  nicht weiter erörtern kann.

Was sind Themen?

Im Gegensatz zu den Strukturen, die uns übergreifende Denkschemata aufzeigen, verweisen uns die Themen auf die Biographie. Dabei handelt es sich um existentielle Fragestellungen, Inhalte und Interessen, die eine Art Sucher für die Beschäftigung mit Religion  zur Verfügung stellen. Im Gegensatz zu den kognitiven Strukturen besitzen Themen eine persönliche und existentielle Dimension. Ferner gibt es individuelle Themen, die sich aus speziellen biografischen Erfahrungen her speisen, und es gibt Themen, die  für eine Altersgruppe relevant sind. dazu gehören für die Kinder mit geistiger Behinderung das Spiel, für Jugendliche das Thema 'Freundschaft', für Erwachsene im Arbeitsleben entsprechend die Arbeit in all ihren Aspekten für die Identität. Individuellere Themen waren beispielsweise Gotteserfahrungen und das Thema Tod und Sterben.       

Abbildung 1: Themen und Strukturen als sich ergänzende Perspektiven auf die Religiosität. © Stefan Anderssohn             

Ein integratives Interpretationsmodell von Religiosität

Im Gegensatz zu bekannten religiösen Entwicklungstheorien, in denen verschiedene Aspekte miteinander verschmolzen werden, arbeitet das von mir vorgestellte Modell mit zwei unabhängigen Bestimmungsgrößen. Damit vermeiden wir, Menschen unterschiedlichen kognitiven Niveaus und verschiedener Biografie 'über einen Kamm zu scheren'. Alters- , bzw. biografiemäßige Schwerpunkte und Verstehenshorizonte können individuell berücksichtigt werden.

Obwohl die Gruppe der Menschen mit geistiger Behinderung den Anstoß zur Entwicklung dieses Modells gab, ist es nicht auf sie beschränkt. Interessanterweise lässt es sich auch auf die Religiosität so genannter 'nicht behinderter'  Menschen übertragen.

Dies bietet ein ungeahntes Potential: Die Religiosität behinderter und nicht behinderter anhand eines einzigen Modells interpretieren zu können und hier weder zu defizitorientierten noch zu ausgrenzenden Beschreibungen greifen zu müssen - diese Möglichkeit lässt die Vision einer integrativen Religionspädagogik greifbar werden!

Woher bekomme ich mehr Informationen zum Thema?

Dieser knappe Artikel konnte das Thema nur an der Oberfläche anreißen. Wenn Sie sich weiter darüber informieren und es vertiefen wollen, dann helfen Ihnen die folgenden Hinweise:

  • Ein Grundlagenartikel in der Online-Zeitschrift Heilpädagogik online 01/2003 bietet allgemeinverständnliche Informationen zum Thema. Download der Ausgabe 01/2003 von heilpädagogik online
  • Die umfassende Forschungsarbeit und die theoretischen Hintergründe in  wissenschaftlicher Darstellung finden Sie in meiner Dissertation: Anderssohn, S. (2002): Religionspädagogische Forschung als Beitrag zur religiösen Erziehung und Begleitung von Menschen mit geistiger Behinderung. Diss. Univ. Kiel Franfurt/M.: Lang
  • Ich plane eine allgemeinverständliche Buchveröffentlichung zum Thema: Mehr Informationen zu diesem Projekt finden Sie [hier] .
  • Weitergehende Frage beantworte ich Ihnen natürlich gerne. Sie erreichen mich über die Kontaktseiten von www.reliforum.de oder www.anderssohn.info.

Literaturnachweis

1 Wegenast, K. (1968): Die empirische Wendung in der Religionspädagogik. Der Evangelische Erzieher 20, 111-125

2 Kohlberg, L./Gilligan, C. (1971): The Adolescent as a Moral Philosopher: The Discovery of the Self in a Postconventional World. Daedalus, Journal of the American Academy of Arts and Sciences 100, 4, 1051-1086

3 Anderssohn, S. (2002): Religionspädagogische Forschung als Beitrag zur religiösen Erziehung und Begleitung von Menschen mit geistiger Behinderung. Diss. Univ. Kiel Franfurt/M.: Lang

Über den Autor

Dr. Stefan Anderssohn ist Sonderschullehrer und Religionspädagoge. Er ist in der Aus- und Fortbildung tätig und hat zur Religiosität von Menschen mit geistiger Behinderung umfangreich geforscht. Stefan Anderssohn arbeitet u.a. als Religionspädagoge mit Kindern und Jugendlichen mit geistiger Behinderung und Körperbehinderung an einem großen Schul- und Therapiezentrum in Norddeutschland. Er ist außerdem seit dem Jahr 2000  Betreiber des Internetportals www.reliforum.de, dem Forum "Religionspädagogik & Geistigbehindertenpädagogik" . Mehr über den Autor erfahren Sie unter www.anderssohn.info .  

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Anderssohn, S. (2007): "Themen und Strukturen: Ein neuer Ansatz zur Interpretaion der Religiosität von Menschen mit geistier Behinderung ", erschienen bei www.reliforum.de. URL: http://reliforum.anderssohn.info/index.php/reliforum-artikel/114-ein-neuer-ansatz-zur-interpretaion-der-religiositaet-von-menschen-mit-geistier-behinderung [zuletzt geprüft am: Ihr Abrufdatum]